Bezugssysteme

Als ich die Funktion des rationalen Verstandes beschrieb, da habe ich eine wichtige Funktion der Psyche unterschlagen, als ich es so darstellte, als würde der rationale Berechnungsprozess direkt in einer Entscheidung münden. Für rein rationale Entscheidungen ist das im Grunde auch so, aber das ist ein Spezialfall und gleichzeitig auch ein großes Manko einer stark rational fixierten Psyche.

Der rationale Verstand stellt innerhalb der Psyche nur eines von mehreren „Bezugssystemen“ dar. Ein „Bezugssystem“ ist ein Bewertungssystem, auf das sich die Psyche in ihren Verhaltensentscheidungen bezieht. Das rationale Bezugssystem wird durch die Weltsicht bestimmt. Unterschiedliche Weltsichten repräsentieren unterschiedliche rationale Bezugssysteme. Theoretisch ist es denkbar, dass die Psyche unterschiedliche rationale Bezugssysteme für unterschiedliche Arten von Problemen einsetzt, was auf dem gegenwärtigen Stand ihrer Entwicklung aber eher die Ausnahme ist. Ein Beispiel dafür wäre ein Wissenschaftler, der an Gott glaubt: In diesem Fall arbeitet die Psyche mit den beiden rationalen Bezugssystemen „Wissenschaft“ und „Religion“.

In der Psyche gibt es aber außer dem rationalen Bezugssystem noch mehrere emotionale Bezugssysteme:

  1. Der individuelle Aktivitätsdrang ist mit einem emotionalen Bezugssystem verbunden. Depression ist eine negative Emotion aus dem Bezugssystem des individuellen Aktivitätsdrangs. Dieses emotionale Bezugssystem drückt den Grad der Übereinstimmung des Verhaltens mit dem eigenen individuellen Aktivitätsdrang aus.
  2. Die Wahrnehmung der Welt ist mit einem weiteren emotionalen Bezugssystem verbunden, welches die Wechselwirkung des eigenen Verhaltens mit dem Verhalten der Welt ausdrückt. Genauer gesagt drückt dieses Bezugssystem den Grad der Übereinstimmung des eigenen Verhaltens mit den Gesetzmäßigkeiten der Welt aus. Angst ist eine negative Emotion aus diesem Bezugssystem. Sie drückt einen Konflikt des eigenen Verhaltens mit einer verhaltensbegrenzenden Gesetzmäßigkeit der Welt aus.

In einer Psyche ohne rationalen Verstand müssen nur diese beiden emotionalen Bezugssysteme für eine Entscheidung gegeneinander abgewogen werden. Wenn das erste emotionale Bezugssystem über seine Emotionen ausdrückt „Ich will das“ und das zweite „Das wird funktionieren“ (beide Bezugssysteme positiv), dann ist die Entscheidung klar. Und das gleiche gilt auch, wenn beide negativ sind. Es gibt darüber hinaus aber auch noch die beiden Konfliktfälle, die auch in Entscheidungen umgesetzt werden müssen:

(Ich drücke hier Emotionen als Ideen aus, was vielleicht ein bisschen missverständlich ist. Aber geschriebene Information basiert nun mal auf Ideen. Eigentlich sind Emotionen ein sehr komplexer und viel-dimensionaler Informationsträger. Das können Ideen nur sehr eingeschränkt ausdrücken.)
In den Konfliktfällen hängt die Entscheidung stark davon ab, wie die jeweilige Psyche die einzelnen Bezugssysteme gewichtet. Eine Psyche, welche den individuellen Aktivitätsdrang als sehr wichtig einschätzt, würde entscheiden „Kann schon sein, dass es nicht geht, aber ich probier’s trotzdem“ und eine Psyche, welche stärker auf die Wahrnehmung der Welt fixiert ist, würde genau umgekehrt entscheiden: „Es geht halt nicht. Sinnlos, es trotzdem zu versuchen.“

Was im nicht-rationalen Fall schon leicht kompliziert klingt, wird durch die Entwicklung des rationalen Verstandes noch sehr viel komplizierter, weil

  1. Es entstehen Kompetenz-Überschneidungen zwischen den rationalen und den emotionalen Bezugssystemen. (Die Frage „Wer darf denn nun bestimmen“)
  2. Das rationale Bezugssystem erzeugt durch seine Existenz noch zwei weitere emotionale Bezugssysteme, deren Ursprung im rationalen Bezugssystem aber nicht bewusst gesehen wird:

Die Weltsicht des rationalen Bezugssystems ist ja eine Art Abbild der Welt. Man kann sie sich wie eine Landkarte vorstellen. Und dieses Abbild der Welt bringt ein ganz ähnliches emotionales Bezugssystem hervor, wie die nicht-rationalen Teile der Psyche für ihre direkte Wahrnehmung der Welt (der „Realität“). Ohne rationales Bezugssystem ist Angst ein äußerst zuverlässiges Entscheidungskriterium. Aber mit einem rationalen Bezugssystem kann eine Angst

Angststörungen bzw. übertriebene Ängste entspringen Teilen der Weltsicht, die nicht mit der Realität übereinstimmen. Die „Realität“ ist, wie die Welt wirklich ist. Die „Weltsicht“ ist, was das Ich meint, wie die Welt ist. Realität und Weltsicht weichen in Teilen voneinander ab und erzeugen aber beide ein emotionales Bezugssystem. Da wo Realität und Weltsicht übereinstimmen erzeugen sie die gleichen Emotionen, aber da wo sie nicht übereinstimmen, erzeugen sie sich widersprechende Emotionen. Die Weltsicht bringt also ein weiteres emotionales Bezugssystem hervor, das dort Verwirrung stiftet, wo Weltsicht und Realität voneinander abweichen.

Darüber hinaus bringt die Weltsicht aber noch ein weiteres Bezugssystem hervor, welches die Aufgabe hat, die Weltsicht frei von Widersprüchen zu halten. Die Weltsicht ist ein hierarchisches Gebilde von Ideen, das sich um bestimmte Grundideen herum aufbaut. Neue Ideen werden für die Aufnahme in die Weltsicht nur dann akzeptiert, wenn sie zu den Grundideen nicht im Widerspruch stehen. Ideen, welche zu den Grundideen der Weltsicht im Widerspruch stehen, erzeugen in diesem speziellen emotionalen Bezugssystem negative Emotionen. Ideen, die mit den Grundideen der Weltsicht übereinstimmen, erzeugen positive Emotionen. Eine Psyche, welche dieses emotionale Bezugssystem sehr hoch gewichtet, wird Ideen, welche zu den Grundideen ihrer Weltsicht im Widerspruch stehen, vehement ablehnen und zwar ganz unabhängig davon, ob diese Ideen vielleicht mit der Realität übereinstimmen.

Ideen sind aber nicht das einzige, was zu den Grundideen einer Weltsicht im Widerspruch stehen kann. Die Wahrnehmung stellt ja unter anderem eine direkte Verbindung zur Realität dar und auch sie kann Informationen liefern, die zu den Grundideen der Weltsicht im Widerspruch stehen. Solche Wahrnehmungen erzeugen dann ebenfalls negative Emotionen in diesem Bezugssystem. Falls sich diese Art von negativen Emotionen in der Entscheidungsfindung durchsetzen kann, kommt es zur Unterdrückung realer Wahrnehmungen und zur Bildung von Illusionen.

Das klingt zunächst negativ, weil das über die Widerspruchsfreiheit der Weltsicht herrschende Bezugssystem dazu tendiert, die Wahrnehmung der Realität zu verfälschen und neue Ideen ganz unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt abzulehnen, wenn sie nicht zu den Grundideen der Weltsicht passen. Es handelt sich aber dennoch um eine wichtige Funktion, weil die Widerspruchsfreiheit der Weltsicht tatsächlich ein wichtiger Teilaspekt einer funktionierenden Psyche ist.

Im Idealfall wird bei der Entscheidungsfindung das mit der Wahrnehmung der Realität verbundene emotionale Bezugssystem höher gewichtet, als das mit der Widerspruchsfreiheit der Weltsicht verbundene emotionale Bezugssystem. Es würde dann ein Widerspruch zwischen realen Wahrnehmungen und Weltsicht vorübergehend akzeptiert, bis die Weltsicht an die neuen Erkenntnisse der Realität angepasst ist.

Problematisch wird es erst, wenn die Widerspruchsfreiheit der Weltsicht alle anderen Bezugssysteme dominiert, denn dann entstehen dogmatische Weltsichten, welche schließlich zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität führen. Die natürliche Fähigkeit zur Weiterentwicklung des Menschen und seiner Weltsicht wird dadurch blockiert und es kommt zu wachsenden Krisen und ausufernden Problemen.

Genau an diesem Punkt steht die Menschheit im Moment mit der wissenschaftlichen Weltsicht. Die Wissenschaft hat sich zu einem Dogma ausgewachsen, welches die Weiterentwicklung der Menschheit in hohem Maße blockiert. Diese Behauptung erscheint auf den ersten Blick geradezu ungeheuerlich, weil doch gerade die Wissenschaft mit ihren Beweisen scheinbar ganz besonders darauf ausgerichtet ist, die Übereinstimmung von Weltsicht und Realität sicherzustellen.

nächstes Kapitel: Innere Wahrnehmung